Pestkreuz und Pestmedaille
>Sog. Pestkreuz (Vortragekreuz), Ende 14./1. H. 15. Jh., Weichholz, farbig gefaßt, 116 x 74 x 5 cm
>Pestmedaille von 1539, Edelmetall, Dm. 5,5 cm, Inv. Nr. I.2 (aktuell nicht ausgestellt)
Position im Dom
Sogenanntes Pestkreuz (14. Jahrhundert)
Pestkreuz
In der Corona-Pandemie sind immer wieder Parallelen zur Pest im Mittelalter gezogen worden. Das Vortragekreuz, das im Stephanschor des St.-Paulus-Doms hängt, ist aus dem späten 14. Jahrhundert/dem Anfang des 15. Jahrhunderts und wird auch als „Pestkreuz“ bezeichnet. In der drastischen Darstellung der Kreuzesqualen Christi – so wurde vermutet – soll sich das Leid der Pestepidemien widerspiegeln. Durch den Ruß von vielen, vielen tausend Kerzen, die im Zeichen der Verehrung Christi und als Bitte vor diesem Kreuz angezündeten wurden,
hatte das Kreuz eine dunkle Farbigkeit bekommen – nach der Freilegung der mittelalterlichen Originalfassung im Jahr 1992 ist die dunkle Patina allerdings nicht mehr erhalten. Wegen der dunklen Färbung wurde das Kreuz aber auch als „schwarzer Herrgott“ bezeichnet. Die Bezeichnungen „Schwarzer Herrgott“ und „Schwarzer Tod“ für die Pest und die damit verbundenen Gedankenketten erinnern ebenfalls an die mittelalterliche Epidemie. Das Pestkreuz ist wohl nur mittelbar in Beziehung mit der Pest zu setzen. Es entstand nicht vor Ende des 14. Jahrhunderts und damit mehr als eine Generation nach dem Auftauchen der Pest 1347 in Europa. Dennoch führt es in das Jahrhundert, in der die erste jüdische Gemeinde in Münster vernichtet wurde – ein dunkles Kapitel der Kirchen- und Stadtgeschichte.
Infolge der Pestepidemie kam es in vielen Städten zu Pogromen – Verfolgung und Ermordung – gegen die jüdische Bevölkerung. Gängiger Vorwurf war dabei, dass die Juden als Feinde der Christen die Brunnen vergiftet und somit Schuld an der Pest hätten. Hinter christlichen Vorurteilen – heute würde man von Fake News sprechen – verbergen sich neben christlich-religiösen auch soziale und wirtschaftliche Motive. Religiöse Motive waren u. a. der ungerechtfertigte Vorwurf, dass die Juden Schuld am Tod Jesu seien. Antijudaistische und antijüdische Stereotype – verallgemeinernde, ungerechtfertigte Vorurteile sowie klischeehafte Bilder – führten auch in Münster zur Vernichtung der jüdische Gemeinde. In den schriftlichen Quellen zur Stadtgeschichte wird vermerkt, das 1350 „de Joden gedodet“ (die Juden getötet) wurden. 1127/28 waren erstmals Juden in Münster urkundlich bezeugt. In dieser Zeitspanne bis zur Auslöschung gab es eine Synagoge, eine Mikwe (rituelles Bad) und eine Scharne (Verkaufshalle für koscheres Fleisch) sowie einen Friedhof. Das jüdische Viertel lag hinter dem Rathaus und erstreckte sich im Bereich des heutigen Syndikatplatzes. Der jüdische Friedhof lag außerhalb der Stadtmauer auf dem Gelände des heutigen Gymnasiums Paulinum.
Sog. Pestkreuz (Vortragekreuz), Ende 14./1. H. 15. Jh., Weichholz, farbig gefaßt, 116 x 74 x 5 cm
© Stephan Kube, Greven
Pestmedaille von 1539, Avers, Edelmetall, Dm. 5,5 cm, Inv. Nr. I.2 © Bistumsarchiv Münster/Fotograf: Stefan Jahn
Diese sogenannte Murrgeschichte erzählt, dass sich das Volk Israel beklagt und von Gott dafür bestraft wird. Die Israeliten sehen daraufhin ein, dass dieses Murren ein Fehler war und bitten Mose um Hilfe, der bei Gott Fürsprache für sein Volk hält. Aufgrund ihrer Einsicht lässt Gott Mose die eherne Schlange aufrichten, die Rettung und Leben ermöglicht.
Die Erzählung von der ehernen Schlange aus dem Alten Testament wird im Neuen Testament aufgegriffen und mit der Erhöhung Jesu bei der Kreuzigung in Verbindung gebracht. Im Johannesevangelium heißt es: „Und wie Mose die Schlange in der Wüste erhöht hat, so muss der Menschensohn erhöht werden, damit jeder, der (an ihn) glaubt, in ihm das ewige Leben hat.“ (Joh 3,14–15).
Pestmedaille
Aus der Zeit der Pest findet sich im Bestand der Domkammer auch eine Pestmedaille. Die goldene Medaille datiert laut Inschrift auf das Jahr 1539 (MDXXXIX).
Auf der Vorderseite (Avers) findet sich die alttestamentliche Szene der ehernen Schlange. Der Bibeltext in Numeri 21,4–9 berichtet, dass die Israeliten auf der Wanderung ins gelobte Land gegen Gott und Mose murrten.
„Warum habt ihr uns aus Ägypten heraufgeführt? Etwa damit wir in der Wüste sterben? Es gibt weder Brot noch Wasser und es ekelt uns vor dieser elenden Nahrung. Da schickte der HERR Feuerschlangen unter das Volk. Sie bissen das Volk und viel Volk aus Israel starb. Da kam das Volk zu Mose und sagte: Wir haben gesündigt, denn wir haben uns gegen den HERRN und gegen dich aufgelehnt. Bete zum HERRN, dass er uns von den Schlangen befreit! Da betete Mose für das Volk. Der HERR sprach zu Mose: Mach dir eine Feuerschlange und häng sie an einer Stange auf! Jeder, der gebissen wird, wird am Leben bleiben, wenn er sie ansieht. Mose machte also eine Schlange aus Kupfer und hängte sie an einer Stange auf. Wenn nun jemand von einer Schlange gebissen wurde und zu der Kupferschlange aufblickte, blieb er am Leben.“ (Num 21,5–9).
Die Rückseite (Revers) der Medaille zeigt daher die Kreuzigung Christi. Dieses Zueinander-in- Bezug-Setzen einer Szene aus dem Alten Testament mit einer Szene aus dem neuen Testament wird Typologie genannt. Die umlaufende Inschrift lautet „CHRISTI CREUTZ VND BLVT IST ALLEIN GERECHT VND GVT“ (Christi Kreuz und Blut ist allein gerecht und gut). Die Inschrift scheint hier ein Grundelement reformatorischer Rechtfertigungslehre aufzunehmen: Der Mensch erlangt allein durch die Gnade Gottes – sola gratia auf Lateinisch – Heil und ewiges Leben; er kann es aber nicht durch sein Handeln verdienen. Dieser Gedanke lässt sich auch mit den dargestellten Szenen verbinden.
Sowohl die Schlange als auch Jesus stellen ein Lebenssymbol dar, die Schlange für die Israeliten, Jesus für die Christen. Wer die erhöhte Schlange ansieht, kann dem Tod entkommen, ebenso wie der Glaube an Jesus dem Menschen das ewige Leben schenkt. Aufgrund seiner beiden Darstellungen wurde die Medaille als Amulett gegen die Pest und andere Seuchen verwendet. Der Aufhänger am Rand weist daraufhin.
Pestmedaille von 1539, Avers, Edelmetall, Dm. 5,5 cm, Inv. Nr. I.2 © Bistumsarchiv Münster/Fotograf: Stefan Jahn
Die Inschrift auf der Vorderseite „CHRISTI TODT WEIT VBRTRIFT ALTEN SCHLANGE GIFT“ (Christi Tod weit übertrifft alten Schlange Gift) ist ein Ausdruck einer alten Substitutionstheologie (von lateinisch substituere, „ersetzen“), wonach das Volk Israel, die Juden, nunmehr verworfen und die Bundesverheißungen aufgehoben seien. Mit Christus und dem Neuen Testament gäbe es eine Überbietung des Alten Testaments. In der Inschrift der Medaille wird dies durch das Verb „übertreffen“ beschrieben. Mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil (1962–1965) hat eine Neubestimmung des Verhältnisses von Christentum und Judentum in der katholischen Kirche stattgefunden. In der Erklärung über das Verhältnis der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen Nostra Aetate vom 28. Oktober 1965 heißt es: „Nichtsdestoweniger sind die Juden nach dem Zeugnis der Apostel immer noch von Gott geliebt um der Väter willen; sind doch seine Gnadengaben und seine Berufung unwiderruflich.“ (NA 4)
Übrigens: Auf den reliefierten Säulen des Grabmal des Dompropst Ferdinand von Plettenberg werden ebenfalls die eherne Schlange und die Kreuzigung Christi in Verbindung gesetzt.
Die Große Prozession
Mit der mittelalterlichen Pest verbindet sich auch die Tradition der Großen Prozession, die heute an jedem ersten Sonntag im Juli stattfindet und bei der eine Nachbildung des historischen Pestkreuzes, des „schwarzen Herrgotts“ – hier ist die dunkle Patina (s. o.) noch deutlich erkennbar – vorangetragen wird. Die Tradition der Prozession geht auf das Jahr 1382 zurück. Damals waren in Münster über 8.000 Personen an der Pest gestorben und ein Großbrand verwüstete weite Stadtgebiete. Mit einem Gelöbnis verpflichten sich Klerus und Gläubige zu einer jährlichen Buß- und Bittprozession durch die Altstadt von Münster.
Die Form der Großen Prozession hat sich im Laufe der Zeit immer wieder gewandelt. Ursprünglich war sie eine Buß- und Bittprozession, um Gott auf diesem Sühnegang um Schutz vor Unglück zu bitten. In der Barockzeit wandelte sie sich in ihrem äußeren Erscheinungsbild vom Buß- und Bittgang in eine triumphale Sakramentsprozession mit festlichen Paramenten, Glockengeläut und Böllerschüssen. In der Zeit des Nationalsozialismus unter Bischof Clemens August Graf von Galen galt die Prozession mit nie zuvor und nie nachher erreichten Teilnehmendenzahlen als Demonstration der Katholiken Münsters und des Umlandes für die Werte des christlichen Glaubens. Nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil wurde eine schlichtere Form mit einzelnen Stationsgottesdiensten in den Altstadtkirchen und einer abschließenden Eucharistiefeier auf dem Domplatz oder im Dom gewählt. Ursprünglich war die Prozession immer am Montag vor St. Margareta (13. Juli). 1993 – der 1200-Jahr-Feier der Stadt Münster – wurde sie erstmals auf den Sonntag vorverlegt.
2021 ist die traditionelle Große Prozession in der münsterschen Synagoge gestartet.
„Wir sind heute bewusst in die Synagoge gekommen, um ein Zeichen der Solidarität zu setzen gegen jede Form von Antisemitismus“, sagte Bischof Felix Genn. Am 11. Mai 2021 hatte es eine antisemitische Attacke vor der Synagoge in Münster gegeben. Dabei hatten junge Männer antijüdische Parolen skandiert und eine israelische Flagge in Brand gesetzt.
Auch in seiner Predigt im Dom griff Bischof Felix Genn das Thema Antisemitismus auf. Er kritisierte scharf, dass „unsere Glaubensbrüder und -schwestern“ in Deutschland immer noch viel Verachtung erlebten. Umso wichtiger sei es ihm, ein deutliches Zeichen zu setzen.
Bischof Felix Genn, 1. Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde Sharon Fehr und Oberbürgermeister Markus Lewe 2021 beim Start der Prozession in der Synagoge von Münster © Bistum Münster, Foto: Achim Pohl
Die Große Prozession 2021 mit der Kopie des sog. Pestkreuzes © Bistum Münster, Foto: Achim Pohl
Die Große Prozession 2021 beim Einzug in den Dom mit der Kopie des sog. Pestkreuzes © Bistum Münster, Foto: Achim Pohl
Stephan Offermann · Video
21 Jahre
Das Pestkreuz stellt für mich als Student der Fächer katholische Religionslehre und Geschichte ein ausdrucksvolles Kunstwerk für die Geschichte jüdischen Lebens in Münster dar. Antisemitische Verschwörungsmythen sind in Zeiten der Coronapandemie wieder stark auf dem Vormarsch. Ich sehe das Pestkreuz daher als Mahnung im Kontext der Pestpogrome in Münster im 14. Jahrhundert und der heutigen Pandemie, dass sich diesen Theorien ganz entschieden entgegengestellt werden muss.
Ludger Hiepel · Texte
Ich bin wissenschaftlicher Mitarbeiter am Seminar für Zeit- und Religionsgeschichte des Alten Testaments an der Katholisch-Theologischen Fakultät. In Forschung und Lehre beschäftige ich mich neben dem Alten Testament, der Altorientalistik und bildtheologischen Fragestellungen auch immer wieder mit dem Judentum. Der christliche-jüdische Dialog ist mir dabei ein Anliegen. Mit Projekten wie diesem möchte ich einen theologischen Beitrag leisten, um leider immer noch bestehende Vorurteile – antijüdische Stereotype und antisemitische Verschwörungsmythen – gegenüber jüdischen Menschen abzubauen.
Literaturhinweise
Aschoff, Diethard: Das Pestjahr 1350 und die Juden in Westfalen. In: Westfälische Forschungen 129 (1979), 57–67.
Aschoff, Diethard: Die Judenverfolgung des Jahres 1350 in der ältesten westfälischen Geschichtsschreibung. In: Lehnardt, Karina u. a. (Hg.): Begegnungen zwischen Christentum und Judentum in Antike und Mittelalter. Festschrift für Heinz Schreckenberg (Schriften des Institutum Judaicum Delitzschianum 1). Göttingen 1993, 21–39.
Bischöfliche Pressestelle Münster: Große Prozession. Nach alter Tradition betend durch Münsters Straßen. Online unter: www.stadtdekanat-muenster.de (Stand: 08.05.2021).
Jászai, Géza: Das Pestkreuz. Online unter: www.paulusdom.de (Stand: 08.05.2021).
Jászai, Géza: Das Pestkreuz des Domes zu Münster. In: Jászai, Géza (Hg.): Kunstwerke des St.-Paulus-Domes zu Münster. Imaginationen des Unsichtbaren. Münster ²2000.
Koenen, Klaus: Art. Nehuschtan. In: Das Wissenschaftliche Bibellexikon im Internet www.wibilex.de, 2009. Online unter: www.bibelwissenschaft.de (Stand: 08.05.2021).
Weinebeck, Viktoria: Andere ausgrenzen. In: Bistum Münster (Hg.): Frieden. Wie im Himmel so auf Erden? (Frieden von der Antike bis heute / LWL-Museum für Kunst und Kultur, Bistum Münster, Archäologisches Museum der Universität Münster Münster, Kunstmuseum Pablo Picasso Münster, Stadtmuseum Münster (Hg.)). Dresden 2018, 208–211.