Fragment eines Kaselstabs mit der Wurzel Jesse

>Südl. Niederlande, um 1500/1530, 116 x 62/18,8 cm (Sammlung Bischöfliches Diözesanmuseum, BM 708; aktuell nicht ausgestellt)
Position im Dom
Fragment eines Kaselstabs mit der Wurzel Jesse, südl. Niederlande, um 1500/1530, Leinen, Seide, 116 x 62/18,8 cm, Sammlung Bischöfliches Diözesanmuseum, BM 708 © Stephan Kube, Greven

Schlagen sie das Neue Testament auf der ersten Seite auf und beginnt zu lesen, werden die Lesenden wohl zunächst recht irritiert sein, haben sie sich doch beinahe das ganze erste Kapitel des Matthäusevangeliums durch eine lange Aneinanderreihung von Namen, den Stammbaum Jesu, zu quälen.
Doch dieser auf den ersten Blick recht trocken wirkende Einstieg birgt bei genauerem Hinsehen viel mehr in sich. Darauf gibt das dargestellte Kunstwerk, ein mittelalterlicher Kaselstab, einen Hinweis. Bei einem Kaselstab handelt es sich um die Verzierung eines Messgewandes, welches auch Kasel genannt wird, die auf dem Rückenteil des Gewandes angebracht war. Die zahlreichen Personen, die sich in dem Stammbaum tummeln, zeigen an: Hier herrscht Lebendigkeit und Dynamik, so wie die Geschichte Israels stets gewesen ist, die sie alle wiederum darstellen. Die dreigeteilte Darstellung der Ahnentafel Jesu lädt zu einer genaueren Betrachtung ein, ist sie doch Verbildlichung der tiefreichenden jüdischen Wurzeln Jesu Christi.

Die Väter

Dargestellt ist hier die „Wurzel Jesse“, die sich so oder in ähnlicher Ausführung in zahlreichen Kirchen finden lässt. Aus dem ruhenden Jesse, dem Vater des Königs David, erwächst ein Baum, der die lange Reihe der Vorfahren zeigt. Genauso verschlungen und abwechslungsreich wie die Darstellung, ist auch ihre Geschichte. Der am Fuße des Baumes ruhende Jesse ist ein einfacher Einwohner Bethlehems, doch Gott hat seinen jüngsten Sohn David zum König erwählt. So wird dieser junge David mit der Hilfe seines Gottes zu einem der mächtigsten Könige Israels werden und es zu einem mächtigen Reich machen. Doch seine und die Verfehlungen seiner Nachfolger führen zu einem Niedergang des Volkes Israel und so fällt es unter die Herrschaft Babylons. In dieser schweren Zeit der Klage und Trauer lässt Israel trotz aller schwerwiegenden Umstände nicht vom Glauben an seinen Gott, nein, der Glaube, das Hoffen und Beten intensiviert sich sogar noch. Der Stammbaum ist also, die zwei kurzen Schlaglichter zeigen dies, auch ein Sinnbild für die wechselvolle (Glaubens-) Geschichte der Israeliten.

Fragment eines Kaselstabs mit der Wurzel Jesse, südl. Niederlande, um 1500/1530, Leinen, Seide, 116 x 62/18,8 cm, Sammlung Bischöfliches Diözesanmuseum, BM 708 (Detail) © Stephan Kube, Greven
Fragment eines Kaselstabs mit der Wurzel Jesse, südl. Niederlande, um 1500/1530, Leinen, Seide, 116 x 62/18,8 cm, Sammlung Bischöfliches Diözesanmuseum, BM 708 (Detail) © Stephan Kube, Greven

Maria und die Frauen

Auf dem Kaselstab sticht die hervorgehobene Position Mariens deutlich ins Auge. Oben in der Krone des Stammbaums thront sie mit ihrem Sohn im Arm. Obwohl der Kaselstab dort schon etwas verschlissen und der Kopf nicht zu sehen, ist Maria an ihrem blauen Kleid gut zu erkennen. Doch nicht bloß die künstlerische Darstellung zeigt ihre exponierte Position, auch der niedergeschriebene Stammbaum tut dies. Denn dort wird über 42 Generationen in monotoner Weise eine – zumeist – Vater Sohn Abfolge beschrieben. Marias Abstammung bleibt jedoch unerwähnt, die Generationenfolge endet mit ihrem Gatten Josef. Genau wie Maria fallen noch vier weitere Frauen aus dem starren Muster heraus. Schnell sind Gemeinsamkeiten zwischen diesen Frauen auszumachen. Allesamt sind sie Nicht-Jüdinnen und sie alle sind randständig, sie sind Prostituierte, Witwen, Ehebrecherinnen oder wie im Falle Mariens für ihr Umfeld unerklärlich schwanger. Doch der schlechte Ruf, den diese Frauen bei ihren Mitmenschen haben, hält Gott nicht davon ab, an entscheidenden Stellen seiner Heilsgeschichte mit und an ihnen zu wirken.
Dieser Zug Gottes, mit den gesellschaftlich Geächteten zu sein, zieht sich, so verdeutlicht es die Ahnentafel Jesu, durch die Geschichte Israels. Interessanterweise ist es in den klassischen Wurzel-Jesse-Darstellungen unüblich, die Frauen abzubilden.

Jesus Christus

Auf dem Arm Mariens sitzt dann auch derjenige, auf den der Stammbaum hin ausgerichtet ist: Jesus Christus. Er ist das Ergebnis einer über Jahrtausende währenden Geschichte des jüdischen Volkes mit ihrem Gott. Ohne seinen jüdischen Hintergrund zu kennen, ist das Denken und Handeln Jesu nicht zu begreifen. Dies verdeutlicht der Stammbaum. Doch zugleich zeigt er auch, dass Jesus Christus nicht allein von Juden abstammt, sondern sich immer auch nicht-jüdische Personen unter seine Vorfahren gemischt haben.

Auf diese Weise will Matthäus verdeutlichen, dass Jesus Christus auf der einen Seite ohne seinen jüdischen Hintergrund und sein Jude-Sein nicht zu verstehen ist. Auf der anderen Seite öffnet sich in Jesus Christus der Glaube an den einen Gott endgültig für die Heiden. Matthäus will, nicht nur mit dem Stammbaum, sondern mit seinem ganzen Evangelium, Juden und Heiden miteinander versöhnen und die Möglichkeit des gemeinsamen Glaubens unterstreichen.

In einem Bewusstsein um diese enge Verknüpfung zwischen Judentum und Christentum, welche in der Vergangenheit leider oft übergangen wurde – die fehlenden Frauen im bildlich dargestellten Stammbaum weisen darauf hin – lässt sich das Zusammenleben zwischen Juden und Christen fruchtbar gestalten. Zugleich haben die Christen sensibel zu sein, um entscheidende Elemente des jüdischen Glaubens nicht für sich zu vereinnahmen. 

Der Vollständigkeit halber sei noch auf die beiden Figuren, die sich auf dem Fragment des Kaselstabs finden, verwiesen:

Fragment eines Kaselstabs mit der Wurzel Jesse, südl. Niederlande, um 1500/1530, Leinen, Seide, 116 x 62/18,8 cm, Sammlung Bischöfliches Diözesanmuseum, BM 708 (Detail)
© Stephan Kube, Greven
Fragment eines Kaselstabs mit der Wurzel Jesse, südl. Niederlande, um 1500/1530, Leinen, Seide, 116 x 62/18,8 cm, Sammlung Bischöfliches Diözesanmuseum, BM 708 (Detail)
© Stephan Kube, Greven

Katharina von Alexandrien

Katharina soll der Legende nach zur Zeit des Kaisers Maxentius zu Beginn des 4. Jahrhunderts in Alexandrien das Martyrium erlitten haben. Ihr Leben und Sterben ist geschichtlich nicht zu fassen. Die Legende berichtet, dass die kluge Katharina sich von einem Eremiten zum christlichen Glauben bekehren hatte lassen. Als in Rom ein Fest zu Ehren der Götter stattfand, bei dem Christen öffentlich ihrem Glauben abschworen und das heidnische Opfer darbrachten, stellte Katharina den Kaiser wegen seiner Christenverfolgung zur Rede und erklärte die römischen Götter für nichtig. Durch ihre Redegewandtheit trieb sie den Kaiser in die Enge. Dieser lies in seiner Wut die besten Redner und Gelehrten holen. Doch Katharina besiegte auch diese im Rededuell, sodass sich alle 50 Männer taufen ließen. Das brachte den Kaiser noch mehr in Rage, sodass er alle 50  und Katharina töten ließ.

Johannes der Täufer

Am Anfang des Evangeliums über Jesus Christus steht der Täufer Johannes. Er repräsentiert die Hoffnungsgeschichte Israels und tritt als Mahner auf, der das endzeitliche Kommen Gottes ankündigt. Im Matthäus-, Markus- und Lukasevangelium wird der Täufer Johannes und die Taufe Jesu beschrieben. Im Matthäusevangelium heißt es: „In jenen Tagen trat Johannes der Täufer auf und verkündete in der Wüste von Judäa: Kehrt um! Denn das Himmelreich ist nahe. Er war es, von dem der Prophet Jesaja gesagt hat: Stimme eines Rufers in der Wüste: Bereitet den Weg des Herrn! Macht gerade seine Straßen! Johannes trug ein Gewand aus Kamelhaaren und einen ledernen Gürtel um seine Hüften; Heuschrecken und wilder Honig waren seine Nahrung. […] Zu dieser Zeit kam Jesus von Galiläa an den Jordan zu Johannes, um sich von ihm taufen zu lassen. […] Als Jesus getauft war, stieg er sogleich aus dem Wasser herauf. Und siehe, da öffnete sich der Himmel und er sah den Geist Gottes wie eine Taube auf sich herabkommen. Und siehe, eine Stimme aus dem Himmel sprach: Dieser ist mein geliebter Sohn, an dem ich Wohlgefallen gefunden habe.“ (MT 3,1–4.13.16f).

 
Fragment eines Kaselstabs mit der Wurzel Jesse, südl. Niederlande, um 1500/1530, Leinen, Seide, 116 x 62/18,8 cm, Sammlung Bischöfliches Diözesanmuseum, BM 708 (Detail)
© Stephan Kube, Greven
Winkhold

Christian Winkhold

20 Jahre

Im bisher eineinhalb Jahre laufenden Studium der Theologie ist mir immer wieder das sehr ambivalente Verhältnis zwischen Judentum und Christentum begegnet. Während meiner Auseinandersetzung mit dem gewählten Kunstwerk konnte ich mich in diese Thematik vertiefen.

Literaturhinweise

„Gott wirkt weiterhin im Volk des Alten Bundes“ (Papst Franziskus). Texte zu den katholisch-jüdischen Beziehungen seit Nostra aetate (Arbeitshilfen der DBK 307), Bonn 2019.

Jászai, Géza: Die Domkammer der Kathedralkirche Sankt Paulus in Münster. Kommentare zu ihrer Bilderwelt hg. vom Kapitel der Kathedralkirche St. Paulus zu Münster, Münster 1991, 148f. (Nr. 132).

Müller, Roland: Matthäus – „Ein ökumenisches Evangelium“ (24.09.2017), auf: www.katholisch.de.